Ahörnchen war mal schlank
Ich heisse Anja, ich bin 36 Jahre alt, und ich bin dick!
Das ist in erster Linie
eigentlich ein Statement für mich selber, denn für andere ist es ja deutlich zu
sehen.
Aber bis ich es mir endlich selber eingestehen konnte, hats eine Weile
gedauert.
Ich war nicht immer dick, und das macht alles noch schwieriger.
Klar, es
ist sicher die Hölle, schon als Kind Spöttleien und Schlimmeres wegen der allzu
ausladenden Figur ertragen zu müssen, aber richtig schlimm ist es, als erwachsene
Frau ins Dorfschwimmbad zu gehen (Ich kann den Gang dorthin auch schlecht
vermeiden, ich arbeite dort.), sich in den Badeanzug vom letzten Jahr zu zwängen
(Der -zieh- hat doch -zerr- letztes Jahr -zupf- noch gepasst -stöhn-), und auf dem
Weg zum Schwimmbecken die entsetzten Blicke der alten Klassenkameraden von 1986 zu
sehen und deutlich darin zu lesen "Meine Güte, ist die auseinander gegangen, dabei
war sie doch früher so schlank und sportlich." War ich auch, keine Frage. Tennis,
Ballett, Reiten und so weiter --- Das macht einen schlanken Fuß (und eine schlanke
Taille, schlanke Oberarme, schlanke Schenkel *schnüff*). Mein Verhängnis ist und
war, dass ich von Natur aus bequem bin und eine Vorliebe für dünne Männer habe.
Männer, die essen können, was und soviel sie wollen, ohne dicker zu werden. An
ausgerechnet so einem bin ich hängen geblieben, als ich gerade achtzehn war. Er
stopfte sich gnadenlos mit Currywurst und ähnlich gehaltvollen Genüssen voll, und
ich stopfte aus Liebe gleich mal mit. Obendrein machte ich den Führerschein, und
damit hatten auch gleich meine Fettzellen freie Fahrt, denn Vorsätze wie "Für
kurze Strecken nehme ich aber weiterhin das Fahrrad" wurden ebenso wenig
realisiert wie der Vorsatz des Bundeskanzlers, die Arbeitslosenzahlen zu
halbieren. Die Zeit für Sport blieb auch nicht mehr, denn ich war nun keine
Schülerin mit viel Freizeit mehr, sondern eine Auszubildende, die morgens um
Sieben das Haus verließ und es erst abends um Acht wieder betrat. Ich kann aber
nicht gerade behaupten, dass ich sportliche Betätigung sonderlich vermisst hätte.
Mit dreiundzwanzig Jahren wurde ich schwanger, und die erste Vorsorgeuntersuchung
war für mich wie der Gang nach Canossa --- ich musste auf die Waage. Und ich durfte
nur die Schuhe ausziehen, dabei hätte ich mich am liebsten auch noch meiner
Armbanduhr, meiner langen Haare und meines Blinddarms entledigt. 68 kg! Und das
bei einer Grösse von 1,59m! Dazu der charmante Kommentar meines Gynäkologen: "So
klein und schon so dick!" Danke, Herr Doktor, jetzt gehts mir doch schon gleich
viel besser! Ich war mit meinem Körper ohnehin nie so recht im Einklang, denn
schon mit zehn Jahren hatte ich Körbchengrösse 70 C, und das, obwohl der Rest
meines Körpers noch durchaus dem einer Zehnjährigen entsprach. Oder - um es
bildhaft auszudrücken - ich hatte mit zehn Jahren die Figur einer Pamela
Andersen: grossen Busen, dünne Beine. Einfach schrecklich, denn selbst erwachsene
Männer scheuten sich bisweilen nicht, mich auf offener Strasse und wörtlich "im
Vorbeigehen" anzugrabschen. Vielleicht habe ich mir die Pfunde auch instinktiv
angefuttert, denn je dicker der Rest des Körpers, desto weniger fällt der Busen
auf. Ist natürlich Quatsch, denn der Busen wuchs mit der Fresserei ebenso wie der
Hintern, die Schenkel und das Kinn (oder ... wie ist eigentlich die Mehrzahl von
Kinn?). Im Verlauf der nächsten Monate nahm ich 16 kg zu, was natürlich in einer
Schwangerschaft nicht sooo viel ist, aber ich sah wirklich aus, wie ein
wandelnder Kubikmeter (Höhe mal Breite mal Länge). Dann war aber der gesunde Sohn
da, die Freude darüber riesengross, das Entsetzen über den ausgeleierten und
obendrein gestreiften Bauch, der im Liegen wohl flach, im Stehen aber eher nach
sechstem Monat aussah, ebenso. In den ersten Tagen und Wochen nach der Geburt war
ich noch fest davon überzeugt, die Hebamme hätte ein Kind in meinem Bauch
vergessen, aber schliesslich musste ich akzeptieren, dass ich kein unschuldiges
Baby dafür verantwortlich machen konnte. Und dann habe ich gehungert, aber wie.
Gestillt habe ich nicht, denn die Vorstellung, dass in meine ohnehin schon
riesigen Brüste noch Milch einschiessen würde, hat mich wirklich erschreckt. Nach
einem Jahr wog ich zarte 58 kg und fand mich einfach klasse. Nach einem weiteren
Jahr wog ich schon wieder ca. 65 kg, und nach weiteren zwei Jahren war ich bei 75
kg angekommen. Dann allerdings habe ich mir einen Traum erfüllt - ich habe meine
Brust verkleinern lassen. Ich habe davon geträumt, seit ich denken konnte, und es
war überraschend unkompliziert und völlig schmerzfrei. Gekostet hats auch nichts.
Als ich nach der Operation zum ersten Mal aufstehen durfte und zum ersten Mal
seit Jahren einen ungehinderten Blick auf meine Füsse hatte, sind mir die Tränen
gekommen. Vor Freude! Damit war es aber schnell wieder vorbei, denn nachmittags
stand ein Termin beim Professor an, der mich auch operiert hatte und ein
"Nachher-Foto" machen wollte. Als ich so in Unterwäsche vor ihm stand, fragte er
(Professor!!!) mit einem Blick auf meinen Bauch: "Was sind denn das für
Streifen?" "Ähm --- Schwangerschaftsstreifen!" "Hmmm... wieviel wiegen Sie denn
eigentlich?" Die Frage nach meinen geheimsten sexuellen Wünschen hätte ich nicht
als schlimmer empfinden können. "Na, so Mitte Siebzig, würde ich sagen." "Das ist
ja ungeheuerlich", geiferte der Herr Professor, "ich wiege genausoviel, dabei bin
ich viel grösser." Tja, hätte ich mich entschuldigen sollen? Nun hatte ich
endlich einen "Makel" an meinem Körper korrigiert, aber das war scheinbar immer
noch nicht genug. Und obwohl ich morgens noch so stolz und glücklich über meine
neue Figur war, stand ich abends im Krankenhaus vorm Spiegel und hasste mich:
"Vor der OP hast Du ausgesehen wie Mutter Beimer, jetzt siehst Du aus wie Dirk
Bach, nur nicht so behaart." Ich habe im Krankenhaus fortan alles Essbare
verschmäht (bis auf Knäcke und Bananen), habe die Schwestern zu Tode erschreckt,
indem ich dreimal täglich zwanzig Situps im Bett absolvierte ("Sie sollen STILL
LIEGEN!!!")und darüberhinaus beschlossen, so traumschön zu werden, dass ich mit
den Skalps der Männer meine Zimmerdecke vertäfeln könne (Ich war übrigens nach
wie vor glücklich verheiratet!). Ich habe das mit soviel Erfolg durchgezogen,
dass ich zwar tatsächlich im Besitz einiger gebrochener Männerherzen war, dafür
aber beinahe um meine Ehe ärmer gewesen wäre und obendrein beim Psychiater
gelandet bin. Zum Glück habe ich das Ruder rechtzeitig herum gerissen, dafür
wurde ich aber auch gleich wieder dicker. Der Käse, der Rotwein, der Champagner
... dass ich grosses Suchtpotential habe, egal, ob es sich um Zigaretten, Essen
oder Rotwein handelt, wurde mir jetzt richtig bewusst, aber ändern konnte ich es
halt auch nicht. Auf die Waage bin ich gar nicht mehr gegangen, die Batterien
taten mir auch irgendwann den Gefallen, auszulaufen. An meinen Klamotten habe ich
gemerkt, wann ich die Höchstgrenze erreicht habe. Aber das, was für mich die
Höchstgrenze war, wäre für eine normal gebaute Frau Grund genug für eine
ausgelassene Hysterie gewesen.
Immer wieder hörte ich von Weight Watchers, und wie enorm viel man da abnimmt,
und wieviel Spaß das macht, und, und, und ...
Das nächste Weight Watchers war aber ca. 25 km entfernt von meinem Zuhause, und
ich hatte ab- so- lut keine Lust, einmal pro Woche da hin zu schüsseln. Beim
Einkaufen traf ich dann aber einmal eine ehemalige Schulkameradin, zart und
elfengleich, dabei hatte ich sie eher als dralles Bauernmädchen in Erinnerung.
"Jaaaaa, ich bin ja auch bei den Weight Watchers.", als ob das die einzig
richtige Erklärung sei. Sie sagte aber nebenbei noch, dass sie selber eine Gruppe
gründen wolle, und zwar in meinem Nachbarort. Ich war Feuer und Flamme, dachte,
dass die Stunden meiner überzähligen Kilos gezählt wären und konnte das erste
Treffen kaum erwarten. Ich bin dann tatsächlich hin ... gleich zweimal, zum
ersten und zum letzten Mal. Nun sollte ich vielleicht auch gleich betonen, dass
ich kein Gruppen-Mensch bin, und eine Gruppe, die ausschliesslich aus Frauen
besteht, kommt für mich einer Naturkatastrophe gleich. Ich hätte es wissen
müssen. Als ich den Raum betrat, empfing mich als erstes infernalischer Lärm! Ein
Schnattern und Gackern und Kichern ... meine Bekannte, die hier ihr Debut als
Gruppenleiterin feiern wollte, schwitzte und schluckte, trotzdem brauchte es noch
eine Viertelstunde und viele Ermahnungen, bis endlich alle der anwesenden Frauen
sassen und - wenigstens mal kurz - schwiegen. Meine Bekannte hub an, ihre
Begrüssungsrede zu halten, da --- klingelte ein Handy. Zur Ehrenrettung der
Angerufenen muss man sagen, dass es ihr wenigstens peinlich war. Ein hektisches
Fuchteln und Tippen - Ruhe. Knappe dreissig Sekunden später klingelte wieder ein
Handy - und zwar das Gleiche wie zuvor. Auf der Stirn meiner Bekannten bildete
sich schon eine vertikale Zornesfalte, aber vorerst verkniff sie sich eine
Bemerkung, zumal die Besitzerin des Handys erneut schamvoll errötete und den
Anruf abwürgte. Zu dem Zeitpunkt habe ich schon innerlich ausgerechnet, ob wohl
ein Besuch im Kasperle-Theater billiger gekommen wäre, aber noch bevor ich zu
einem befriedigenden Schluß gekommen war, klingelte das Handy der besagten Dame
erneut. "Ich verstehe das nicht", jammerte sie, "ich habe doch auf lautlos
gestellt." Zum ersten Mal wurde meine Bekannte laut: "Wie wäre es, wenn sie es
AUS schalten würden?" Uiuiuiui... das konnte böse werden. Aber es schien gewirkt
zu haben, das Handy schwieg stille. Schade, dass ich das nicht auch von den
anwesenden Damen sagen kann. Ununterbrochen wurde getuschelt, geflüstert,
mitunter auch in Zimmerlautstärke geplaudert ... würde das Klopfen der
Halsschlagader Kalorien verbrauchen, wäre ich an dem Abend in Grösse 36
geschrumpft! Und dann die intelligenten Fragen: "Wenn ein ganzer Broccoli keinen
Point hat, kann ich mir dann für einen halben Broccoli einen halben Point als
Bonus aufschreiben?"
Ich gehe nicht gern ins Kino, und der Grund dafür ist ausschliesslich, dass ich
regelrecht wild werde, wenn sich eine Viertelstunde nach Vorstellungsbeginn noch
vier Leute an mir vorbei drängeln wollen, ich die Beine anziehen oder sogar
aufstehen muss, mir auf die Zehen getreten wird, sich das Ganze noch mindestens
zweimal wiederholt, weil die Zuspätkommer sich noch schnell ein Eis oder ein Bier
holen oder aufs Klo gehen wollen und ich schliesslich und endlich das Gefühl
habe, um mein Geld betrogen worden zu sein, weil mein Wohlbefinden durch ein paar
Eierköppe, die offenbar die Uhr nicht lesen können, nachdrücklich gestört wurden.
Die gleiche Erfahrung habe ich auch bei diesem WW-Treffen gehabt. "Komm ich heut
nicht, komm ich morgen." Während der gesamten zweieinhalb Stunden öffnete und
schloss sich die Tür im zwei-Minuten-Takt. "Oh, bin ich etwa zu spät?" Zum Schluß
hätte ich am liebsten gebrüllt: "Nein, Du Träne! Wir sind ein Schweigeorden und
lieben es, 72 Stunden auf harten Holzstühlen zu verharren und Menschen zu
beobachten, die durch diese Tür kommen."
Übrigens konnte ich auch dieser Points-Rechnung nicht allzu viel Vertrauen
entgegen bringen. Einerseits brüstet sich Weight Watchers ja damit, eine Diät zu
sein, bei der man nicht "ständig Kalorien zählen muss", andererseits frage ich
mich aber, wo nun der entscheidende Vorteil liegt, nicht Kalorien, dafür aber
Points zählen zu müssen. Ausserdem wurde mir bei diesem Treffen der ultimative,
unschlagbare und unverzichtbare Points-Rechner für immer nur noch 19,95 Euro ans
Herz gelegt, und bei der Gelegenheit habe ich mitbekommen, dass die Grundlage
dieser Points-Berechnung die guten alten Kalorien sind. Ob ich nun also 1200
Kalorien oder 18 Points zu mir nehmen darf, ist letzten Endes also schnuppe. Nur,
dass ich eine Kalorientabelle kostenlos in jeder Apotheke erhalte, für einen
Einkaufs-, bzw. Restaurantführer mit Pointsangabe aber jeweils ein Schweinegeld
hinlegen muss. Nein, für mich ist es absolut nichts. Ich will Weight Watchers
nicht verdammen, die Erfolge sprechen ja für sich. Für mich ist es aber eher
kontraproduktiv, denn als ich von diesem Treffen nach Hause kam, habe ich mir
erstmal ein kühles Bier (2 Points!) gegönnt.
Meine Mutter, der ich wohlweislich nichts von meinem Besuch bei WW erzählt habe,
meinte neulich, nach dem, was sie über WW gehört habe (Meine Mutter ist 1,57m
klein und wiegt 48 kg!) sei es, wenn man ein disziplinierter Mensch ist, die
ideale Diät. Meine Meinung ist, wenn man ein disziplinierter Mensch ist, ist
jede Diät erfolgreich.
Ich lasse es also bleiben, keine Treffen mehr, dafür aber auch ein bisschen
weniger Rotwein, ein bisschen weniger Käse, mehr Salate, mehr Bewegung --- und
dann mal sehen, was der liebe Gott sich bei meiner Figur so gedacht hat. Übrigens
gibt es zwei Männer - der eine zwölf, der andere siebenunddreissig - die mich für
die schönste Frau der Welt halten.
Ich könnte noch viel, viel mehr über die Schönheit der Frau schreiben, über
schöne dicke und auch über schöne dünne Frauen, aber ich fürchte, ich habe den
Rahmen schon jetzt ein wenig gesprengt. Vielleicht später mal! Bis dahin wünsche
ich aber allen Abnehmwilligen viel Glück und allen Abnehmunwilligen ein
genussvolles Leben.
Ahörnchen am 13.02.05
weitere Zunahmen und gute Vorsätze